Ich bin wieder in meiner ehemaligen Heimatstadt Leoben in der Steiermark. Ich sitze meiner damaligen Nachbarin gegenüber. Sie ist eine Konstante meiner Kindheit – ruhig, aufmerksam, wach. Heute lebt sie nicht mehr.
Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs ist sie gerade im 95. Lebensjahr und lebt noch immer allein, ohne zusätzliche Hilfe, in ihrem einstöckigen Haus. Sie putzt und kocht nach wie vor selbst. Nur auf das Kirschenernten hat sie nun schweren Herzens verzichtet, da sie bereits zweimal von der Leiter gefallen ist. Ihr Umfeld hat ihr deutlich gesagt, dass das zu gefährlich sei. „Ich spüre schon mein Alter“, sagt sie.Noch immer liebt sie die griechischen Göttersagen und verfolgt aufmerksam die aktuelle Politik. Nur das Lesen fällt ihr zunehmend schwerer. Ihre Freundinnen sind inzwischen alle verstorben.
Als wir Kinder waren, gingen wir nach der Schule täglich zu ihrem Haus und läuteten an der Tür. Dann öffnete sich im ersten Stock das Fenster, und sie warf uns verschiedene Sorten Eiskonfekt hinunter mit Mickey-Mouse-Figuren darauf. Ein täglicher Genuss vor dem Mittagessen – sehr zur Freude unserer Mutter 😉
Diesmal erzählt sie mir nach langer Zeit wieder von früher. „Hitler hat mir meine Jugend gestohlen“, sagt sie. Als Schülerin, mit siebzehn Jahren, verteilte sie Flugzettel, in denen vor den Auswirkungen des aufkommenden Hitler-Regimes und dessen Plänen gewarnt wurde. „Das wird zum Krieg führen“, sagte sie damals – und heute weiß sie, dass alles genau so eingetreten ist, wie sie es geahnt hatte. Gemeinsam mit zwei Freundinnen warf sie die Flugzettel im Schulgebäude vom oberen Stockwerk in den Flur. Später verteilten sie die Flugblätter heimlich in den Wohnblöcken ihrer Umgebung. Doch die Mädchen hatten nicht mit den sogenannten Blockwarten gerechnet. Diese hatten die Aufgabe, die Bewohner nach ihrer politischen Gesinnung zu beobachten und einzuordnen. Bald wurde klar, dass sie der Tat verdächtig war. Schließlich wurde sie verhaftet, in Graz vor Gericht gestellt und zu drei Jahren Haft verurteilt. Nach ihrer Entlassung war sie nur kurz in Freiheit. Bald darauf wurde sie in das Konzentrationslager Ravensbrück nach Deutschland deportiert. Darüber schwieg sie jahrzehntelang. Kein Wort darüber. Nur eines erzählte sie: Sie könne bis heute nicht bei geschlossener Tür schlafen. Dann habe sie das Gefühl, eingesperrt zu sein. Das erinnere sie an damals.
Über Ravensbrück sagt sie heute, dass die Jüngeren eher überlebten als die Alten – und dass es sehr hart war. Sie gehört zu den Überlebenden. Sie war jung. Nach Kriegsende ging sie zu Fuß rund 900 Kilometer nach Hause.
Nachdenklich berichtet sie, dass sie einmal gehört habe, die Alliierten hätten später recherchiert, ob es in Österreich Widerstand gegeben habe. Diese Widerstandsbewegungen waren eine wesentliche Grundlage für die Anerkennung Österreichs als eigene Nation und für die spätere Neutralität gewesen. Sie sagt leise: „Vielleicht haben unsere Sachen ja doch ein bisschen beigetragen.“ In diesem Moment liegt in ihrem Blick etwas Nachdenklichkeit, eine Ahnung von Sinn, ein Hauch von Rechtfertigung für das Erlebte und die Folgen ihres Handelns. Nicht für sie persönlich. Sondern für die größere Gemeinschaft.
Der französische Begriff courage civil bedeutet Bürgermut. Diese Tugend fordert den Einzelnen auf, durch Mut und persönliches Handeln in einem öffentlichen Konflikt Stellung zu beziehen – auch dann, wenn daraus persönliche Nachteile entstehen können.
Dieses Beispiel zeigt den Einsatz einer einzelnen Person für Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenrechte – und die dramatischen persönlichen Folgen. Es erinnert uns daran, dass diese Generation nicht nur von historischer Last, sondern auch vom Mut Einzelner geprägt ist.
Unsere heutige Gesellschaft richtet den Blick stärker auf das Individuum. Gemeinschaft als Wert ist weniger selbstverständlich geworden als früher. Und doch gibt es sie weiterhin: Menschen, die auch heute Zivilcourage zeigen. Was hat das mit uns zu tun? Als Teil eines großen Ganzen, einer Gesellschaft, sehr viel.
Nachfolgend paar Fragen zur Selbstreflexion
- Wo zeigen Sie selbst Zivilcourage – und wo wollen Sie diese noch zeigen?
- In welcher Situation haben Sie schon einmal Zivilcourage bewiesen?
- Wo liegen Ihre persönlichen Grenzen?
- Wo ist es Ihnen auch nicht gelungen – wo hat Sie der Mut verlassen?
- Was ist Ihnen heute wichtig und was könnte ihr eigener kleiner Beitrag zur Gesellschaft sein?
Zivilcourage entsteht oft leise – dort, wo Menschen trotz Zweifel den Mut finden, ihren Werten zu vertrauen.
Oder, wie meine Nachbarin es sagte: „Wenn ich gewusst hätte, was danach alles kommt, hätte ich die Zettel vielleicht nicht verteilt.“
Nachfolgend ein Link aus der ZEIT zum Thema: „Hat Zivilcourage Grenzen?“
http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2014-12/tugce-zivilcourage-gewalt